Text: Noemi Harnickell

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AUF DEM FRIEDHOF

 

An einem Dienstag im April wird Johanna K. beerdigt. Die Familie bahrt ihren toten Körper in einer Aufbahrungszelle auf dem Schosshaldenfriedhof auf. Ein kleiner Raum, Johanna K. auf der einen Seite, die Familie auf der anderen. Zwischen ihnen eine Glaswand. Eine Woche wird sie hier liegen.

 

Viel länger geht das nicht, da die Verwesung bald nach aussen tritt. Es ist ein Prozess, der bereits Sekunden nach dem Tod beginnt. Die Muskeln verkrampfen sich, die Leichenstarre tritt ein. Das Immunsystem versagt, Darmbakterien zersetzen die Gedärme. Davon sieht man in den ersten Tagen nichts. Aber weil der Körper das Blut nicht mehr durch die Adern pumpen kann, sammelt es sich an den Körperstellen, die dem Boden am nächsten sind. Die Haut läuft dort lila an, während der Rest blass bleibt. Haare und Nägel sehen aus, als würden sie weiterwachsen, weil die Haut austrocknet und schrumpft.

 

Ein Körper darf frühestens 48 Stunden nach dem Tod verbrannt oder begraben werden – um sicher zu sein, dass der Tote auch wirklich tot ist. So will es ein altes Gesetz. Die Menschen hatten früher besondere Angst, sie könnten lebendig begraben werden. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts hat man den Verstorbenen darum im Sarg einen Klingelzug um die Hand gebunden, damit sie sich im Falle eines Scheintods aus dem Grab retten konnten.

 

Erdbestattungen machen noch 10 Prozent aller Bestattungen auf dem Schosshaldenfriedhof in Bern aus. Die katholische Gemeinde in Ostermundigen gehört zum Einzugsgebiet. Bei Katholiken sind Erdbestattungen bis heute verbreiteter als Kremationen. Das hat mit dem Glauben an die leibliche Auferstehung von Jesus zu tun.

 

Die Friedhofsanlage erstreckt sich über 17 Hektaren. Niklaus Hofers Arbeitsplatz liegt hinter der Friedhofskapelle. Zwei Türen trennen den Sigrist von den Trauerfeiern. Sobald der Pfarrer sein Signal gibt, spielt Hofer Musik ab. An einem Kasten, der über dem Schreibtisch an der Wand hängt, kontrolliert er die Temperatur in den Katafalken und Kühlzellen.

 

«Ich habe einen Sargwagen mit Automatik, den ich allein steuern kann. Der Sarg liegt auf zwei Drahtseilen, mit denen ich ihn ins Grab hinunterlasse. Manche Leute bestehen darauf, den Sarg selber zu tragen. Das ist oft eine kulturelle Frage. Ich fahre sicherheitshalber mit dem Wagen mit. So ein Sarg aus Massivholz wiegt um die 80 Kilogramm, plus die Leiche. Das darf man nicht unterschätzen!

 

Wir haben etwa zwei Beisetzungen pro Tag, freitags manchmal bis zu neun, weil das ein beliebter Tag ist. Wir haben auch ein Pandemiefeld, das bisher zum Glück leer liegt, für einen möglichen Super-GAU, dass plötzlich viele Menschen auf einmal sterben sollten und die Kapazitäten der Krematorien nicht mehr ausreichen. Diese Vorkehrung gibt es auf vielen Friedhöfen – und nicht erst seit der Corona-Pandemie. Da könnten wir dann mehrere Lagen übereinander in langen Reihen beisetzen, die Namensnennung würde dann erst im Nachhinein erfolgen.

 

Ein Grab müssen wir regelmässig pflegen. Dreimal im Jahr braucht es eine neue saisonale Bepflanzung, alter Grabschmuck muss entsorgt werden. Das erfordert Ressourcen, die immer weniger Menschen haben oder aufwenden wollen. Dazu kommen immer mehr Menschen, denen Friedhöfe zu konservativ sind. Das ist ein Imageproblem, an dem wir arbeiten müssen.

 

Eine Alternative sind die Themengräber. Bei uns gibt es die Themen Bäume und Sträucher, andere Friedhöfe haben auch Rosen- oder Schmetterlingsgräber. Dem Schosshaldenfriedhof gehört ein Stück Wald. Ähnlich wie beim Gemeinschaftsgrab gibt es hier wenig zu pflegen, aber der Name steht am Grab, und Angehörige können es besuchen.

 

Die Gräber heben wir nach zwanzig Jahren wieder auf. Das ist keine besonders lange Zeit, vor allem wenn eine junge Person stirbt. Aber wir brauchen den Platz. Sie können nach zwanzig Jahren natürlich einen neuen Grabplatz kaufen. Dazu empfehle ich Ihnen aber, eine Urne zu wählen, die sich in der Erde nicht auflöst. Der neue Grabplatz wird womöglich woanders sein, und so können wir die Urne einfach neu beisetzen.

 

Ansonsten bleibt die Urne, wo sie ist. Das neue Grab wird etwas versetzt darüber angelegt. Das Gleiche gilt auch für Särge. Deshalb sind die Gräber heute auch nicht mehr 1,80 Meter tief, sondern nur noch 1,50 Meter.

 

Trauerfeiern finden im Moment nur im kleinen Rahmen statt. Meistens kommt nur der engste Familienkreis zum Begräbnis. Ich höre aber von vielen Familien, dass sie das schön finden. Es ist intimer und gibt ihrer Trauer mehr Raum.

 

Für Beisetzungen in tamilischen Gemeinschaften ist das ein grösseres Problem. Es ist nicht ungewöhnlich, dass mehrere hundert Menschen an eine Beerdigung kommen. Wie soll man sich da auf 50 Leute beschränken?

 

Vor einigen Wochen starb ein bekannter tamilischer Pastor. Die Angehörigen setzten eine Gästeliste auf und stellten zwei Securitas-Angestellte vor die Kapelle. Dann filmten sie die ganze Trauerfeier auf hochprofessionellem Niveau mit Regisseur, Scheinwerfern und verschiedenen Kameras. Das übertrugen sie dann live auf Youtube.»

 

Auf der Wiese beim alten Gemeinschaftsgrab auf dem Schosshaldenfriedhof stehen Blumengestecke und Kerzen. Da- runter sind die Grabplatten mit den Urnen. Angehörige merken sich bei der Beisetzung den Abstand zum Weg, zählen Schritte.

 

Die Aufbahrungszelle neben jener von Johanna K. ist leer. Ni- klaus Hofer hat sie dennoch geschmückt. Geranien und Orchideen, eine weisse Kerze daneben. Manchmal bringen ihm Bestatter unangemeldet Verstorbene.

 

Hofer ist vorbereitet.

 

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