Text: Noemi Harnickell

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IM KRANKENHAUS

 

Sterben ist ein Prozess. Der Tod beginnt nicht erst mit einem still- stehenden Herzen, er wandert durch den Körper und schaltet nach und nach alle Organe wie Lichtschalter aus. Die Lunge ist eines der zentralen Organe, da sie, zusammen mit dem Herzen, die anderen Organe mit Sauerstoff versorgt. Von ihr sind alle anderen Körperfunktionen abhängig. Versorgt sie den Körper nicht mehr mit genügend Sauerstoff, hören die Nieren und das Gehirn auf zu funktionieren, das Herz steht still. Das kann schnell passieren, innert Stunden, unerwartet im Schlaf – oder es kann Tage dauern. Im Fall einer Covid-19-Infektion vermehrt sich das Virus im Körper, es kommt zu starken Immunreaktionen. Abwehrzellen töten plötzlich nicht mehr nur das Virus, sondern auch körpereigene Zellen. Die Membranen zwischen den Lungenbläschen und den Blutgefässen werden porös; Flüssigkeit dringt in die Lunge. Das Virus befällt andere Organe, die Leber, das Herz, auch das Gehirn. Das Leben und der Tod liegen auf der Intensivstation nah beieinander. Monitore überwachen die angeschlossenen kranken Körper. Jede Veränderung erfassen sie sofort. Eine Beatmungsmaschine pumpt Sauerstoff in die Lunge und von dort in die Körpergefässe.

 

Antje Heise ist die ärztliche Leiterin der Intensivstation des Spitals Thun. Ihr Hochdeutsch klingt schnell neben dem gemächlichen Dialekt ihrer Schweizer Kollegen:

 

«Bei lebensbedrohlichen Zuständen sind die Wünsche der Patientinnen wichtig für die Entscheidung, wie wir mit der Therapie fortfahren. Ist er bei Bewusstsein, erkläre ich, was seine Möglichkeiten sind. Will sie an eine Beatmungsmaschine? Will er reanimiert werden? Je nach Vorzustand der Patientin bedeutet das für den Organismus einen grossen Stress. Der Körper braucht oftmals viele Wochen, um sich davon zu erholen.

 

Eine Intubation ist beispielsweise ein nicht zu unterschätzender medizinischer Eingriff. Wir müssen den intubierten Patienten zuerst sedieren und die Muskelfunktionen mit Lähmungsmitteln stilllegen, damit er nicht selber atmet. Noch einschneidender ist die oftmals lang dauernde anschliessende künstliche Beatmung, in der Körperfunktionen wie die eigene Atmung ausgeschaltet sind.

 

Den Angehörigen erkläre ich den nahenden Tod auf der Intensivstation so: Der kranke Mensch stirbt langsam; die Funktion der Organe verschlechtert sich. Eventuell wird der Patient schläfriger, vielleicht ein bisschen delirant, und reagiert immer weniger.

 

Durch die Corona-Pandemie haben viele Menschen die Vergänglichkeit ihres Lebens erst realisiert. Es wurden viele Patientenverfügungen ausgefüllt. Oftmals steht da drin, dass die Patientin nicht reanimiert werden möchte – so manche ändern aber ihre Meinung, sobald sie bei uns auf der Station liegen. Darum zählen Patientenverfügungen erst, wenn eine Patientin sich nicht mehr zu ihren Wünschen äussern kann.


Egal, wofür sich ein Patient entscheidet: Wir brechen keine Therapie einfach so ab. Will eine Patientin nicht künstlich am Leben gehalten werden, stellen wir auf eine palliative Therapie zur Linderung um, auch um ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. Wir geben dem Patienten zum Beispiel Morphium gegen Atemnot, gegen Schmerzen und gegen die Angst.

 

Wenn das Herz zu schlagen aufgehört hat, stelle ich den Tod fest und ich fülle die Todesbescheinigung aus. Ich notiere Todesursache und -zeitpunkt, ob es ein natürlicher Tod war oder nicht. Lauter Formalien. In einem Folgegespräch mit den Angehörigen frage ich sie, ob sie einer Autopsie zustimmen. So können wir mit grosser Genauigkeit feststellen, woran der Mensch gestorben ist. Das kann auch den Hinterbliebenen helfen, seinen Tod besser zu verstehen.

 

Als Corona-Patientinnen in der ersten Welle auf unsere Station verlegt wurden, hatten sie oft Bergamo und die Leichentransporte vor Augen. Auch meinen Kollegen und mir im Spital Thun haben diese Bilder Angst gemacht – ob das auch auf uns in der Schweiz zukommt?

 

Die Intensivstation ist kein Ort, wo die Patientinnen lange bleiben. Drei Tage sind hier eine lange Zeit. Mit Corona-Patienten ist das anders. Die bleiben oft zehn Tage, manche auch mehrere Wochen. Kolleginnen in anderen Regionen und im Ausland hatten während der ersten Welle oft viel zu wenig Zeit für einzelne Patienten. Auch wir im Spital Thun stiessen in der zweiten Welle gelegentlich an unsere physischen und psychischen Grenzen.

 

Für mich bleibt der Tod auch nach all den Jahren, in denen ich mit vielen Facetten des Sterbens konfrontiert war, teilweise belastend. Ich denke oft an eine Frau, die kürzlich unsere Intensivstation verliess. Sie ging durch den Flur, in ihren Händen hielt sie zwei weisse Plastiktüten mit dem Krankenhaus-Logo drauf. Sie war nicht alt, ging aber gebückt. In den Taschen waren die Habseligkeiten ihres Mannes. Alles, was sie von ihm mit nach Hause nehmen konnte, passte in zwei Tragtaschen. Sein Leben hatte er auf der Station gelassen.»